Da ist jemand müde

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Aufstehen

Freudig präsentiere ich den ersten Gastbeitrag auf Da ist jemand müde. Endlich auch ein Text, der sich mit dem Thema Müdigkeit auseinandersetzt. Zum Autor: Alex lebt mit zwei Kindern, einer Frau, diversen Tieren und einem 80-stufigen Treppenstieg glücklich auf dem Land.
Alex hat mir vor vielen Jahren - das war noch vor Anton - etwas Interessantes erzählt:
In Momenten mit seinen Kindern, in denen er spürt, dass der kühle Kopf nicht mehr ganz so kühl ist und das Ruhe bewahren nicht mehr ganz so leicht ist, wendet er einen simplen Trick an: Er nimmt sich aus der Situation raus, geht Händewaschen und zählt bewusst bis 10. Dieses Ritual genügt und die Emotionen sind wieder im Lot und die Ruhe kann wieder bewahrt werden.

Alex hat sehr saubere Hände.


Müde tastet sich wie automatisiert meine Hand Richtung Handy. „Ich muss dringend diesen Weckerton ändern!“ denk ich mir – mal wieder – schlaftrunken. Doch es hilft ja nichts: Aufstehen ist angesagt. Auch für die Kids. Es heißt: der Mensch sei ein Gewöhnungstier. Auf meine lieben Kleinen trifft das in diesem Kontext nur zur Hälfte zu. Gewöhnen wollen sie sich nämlich partout nicht an diese alltägliche Prozedur. Stattdessen reagieren sie darauf wie Tiere. Es wird geknurrt, gekläfft und ja, auch schonmal gebissen.

Aber es hilft ja nichts. Also auf ans Werk: Eigenen Stimmungslevel auf positiv schalten. Stimmlage auf pastoral-sanft stellen. Verständnis heucheln und dennoch das Ziel klar fokussieren.

Ich beginne mit meiner Tochter – wozu mit dem kleinen 1x1 beginnen, wenn die wahre Aufgabe eine Kurvendiskussion mit komplexen Zahlen ist?
„Heeeej, Süssi. Aufstehen.“ Keine Reaktion. Der Ungeübte könnte jetzt narrenhafterweise denken, das Kind schlafe noch und habe nichts gehört. Weit gefehlt. Phase eins des morgendlichen Abwehrrituals: Ignorieren. Eben wie es ein Tier in Gefahrensituationen bisweilen auch tut. Es stellt sich tot.

Also weiter im Text. Beginnen wir mit sanftem Rückenkraulen, das das sanfte Wegziehen der Decke kaschieren soll. Wichtig dabei: Immer weiter mit dem Kind sprechen: „Mäuschen, es ist spät. (Als ob das irgendeine Konstante von Relevanz sei …) Komm, werd wach. Schule geht bald los.

Damit ist die argumentative Grundlage für mein rüdes Stören ihrer Bettruhe gelegt. Frei nach dem Motto: Don’t hate the player, hate the game.
Pustekuchen. Die erste Welle des blanken Hasses schlägt mir entgegen. „Lass mich!!! (elf)!!“ Während die Stimmbänder zu diesem Zeitpunkt noch nicht auf Betriebstemperatur sind, bleibt es akustisch noch einigermaßen moderat. Doch ist es ein boshaftes, zorniges und latent angsteinflößendes Zischen. Zeitgleich entzieht sich der Rücken der Kraulerei durch ein ruckartiges Wegdrehen während die Hand nach dem noch in Reichweite liegenden Zipfel Decke greift, um den Status quo wieder herzustellen.

Ok, sie hat mich also gehört. Gut. Die heiße Phase beginnt. Der Deckenprozess wiederholt sich und wird dieses Mal um die Maßnahme des Kitzelns ergänzt. Der Vorteil: durch die daraus resultierende Bewegung kommt der Kreislauf in Schwung und der Energiehaushalt steigt – sie wird wach!
Der Nachteil: Sie wird wach. Mit Energie. Keiner guten Energie …

Die Stimmbänder sind warm und erzeugen eine kreissägenartige Tonlage. Mal ehrlich, wer braucht das am frühen Morgen??
Die Beschwerden werden zur Kenntnis genommen. Mit Nachsicht. Sie ist ja schließlich müde. Doch die Vehemenz der Abwehrreaktionen steigt. Phase zwei: Sie wird physisch.

Was wie ein unkontrolliertes Ausschwingen der zur Faust geballten rechten Hand wirkt, ist in Wahrheit eine Attacke mit lasergesteuerter Präzision. HA! Darauf war ich vorbereitet. Ein reflexartiges Wegzucken des Kopfes bewahrt mich vor einer Klitschkoesken Schelle. „Teilerfolg für mich“ denke ich mir und klopfe mir innerlich auf die Schulter. Statt nun erneut die Decke wieder zu greifen, ändert dieser waidwunde Wutnickel die Strategie und sucht nach Allianzen. Sie kuschelt sich also unter die Decke von Mama. Diese tut ebenso so, als würde sie noch schlafen und bekäme von diesem David-Goliath Ding biblischen Ausmaßes nichts mit.

Ich atme durch. Kurz sammeln und an die Vernunft eines verantwortungsbewussten Erwachsenen appellieren. „Schatz, kommst du bitte hoch?“
VERDAMMT. Mein Tonfall… Der kann auch als Vorwurf gedeutet werden. (Wieso nur??) Abwarten … Keine Reaktion. Puhh, Glück gehabt. Also nochmal, aber dieses Mal kontrolliert: „Hej Schatz, die Kids müssen – leider – hoch. Magst du mir kurz helfen?“

Schatz mag nicht. Stattdessen ein „Kompromiss“ ihrerseits. „Mach doch schon mal das Frühstück und die Pausenbrote klar. Wir haben dann noch ein paar Minuten.“ Ich spüre förmlich das diabolische Grinsen meiner Tochter, die – mir den Rücken zugedreht – ihren Erfolg feiert. Durchgesetzt, Papas Autorität zurecht angezweifelt, mit Mama verbündet. Tochter: 3! Papa: 0!

Mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit, Frustration und Resignation verharre ich noch ein paar Sekunden ohne jede Bewegung. In dieser kurzen Zeit schlafen Mama und Tochter – Sohnemann hat wirklich durchgehend gepennt – wieder ein.
Also wenn ich jetzt Frühstück und Pausenbrote mache, stehe ich vor der selben Aufgabe wie vor 10 Minuten.

Ich lege mich hin. Decke mich zu. Mache das Licht aus. Ich schlafe jetzt, denn ich bin müde.